Kirchenmusik der EKKW
  • O! Orgel | Orgel des Monats | Dezember

    „Zeitzeuge des Barock“

    Die Johann-Andreas-Heinemann-Orgel der Stiftskirche Wetter

     

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    Am Ende des Siebenjährigen Krieges (1756-1763) bedeutete ein Orgelneubau in Höhe von 2000 Gulden Frankfurter Währung eine unglaubliche Investition für die Stadt Wetter. Sämtliche Zünfte und die gesamte Bürgerschaft beteiligten sich mit hohen persönlichen Opfern, um für die Stiftskirche eine neue große und repräsentative Orgel anzuschaffen und ein Zeichen des Aufbruchs in eine neue Zeit zu setzen. Am 9. Juli 1763 wurde mit Johann Andreas Heinemann (1717-1798) der Vertrag zum Bau einer Orgel, die 22 klingende Register auf zwei Manualen und Pedal erhielt, abgeschlossen; die Orgelweihe fand am 2. Advent 1766 statt.

    Heinemann war der bedeutendste Orgelbauer in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts in Oberhessen. Gelernt hatte er in der Werkstatt seines Onkels Bartholomäus Heinemann in der Nähe von Jena und war somit in der thüringischen Tradition berühmter Orgelbauer wie Heinrich Gottfried Trost groß geworden. 1747 baute er seine Werkstatt zunächst in Laubach auf, 1765 verlegte er sie nach Gießen.

    Seine Werke zeichnen sich durch eine hervorragende handwerkliche Qualität und eine reiche Disponierung der Register in der 8´, 4´ und 2´-Lage aus. Gegenüber den Orgeln seiner Zeitgenossen haben die Manualwerke schon einen erweiterten Umfang von 53 Tönen, C - e³. Das Pedal mit 25 Tönen reicht von C - c¹, was der mitteldeutschen Praxis entspricht. Auch der Werkaufbau mit Hauptwerk, Oberwerk und dahinterstehendem Pedal ist mitteldeutsch, ähnlich den zweimanualigen Werken Gottfried Silbermanns.

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    Leider blieb die Orgel von späteren, nachteiligen Eingriffen nicht verschont. Bei der Innenrenovierung von 1860/62 wurde der Prospekt neugotisch umgestaltet, indem das Rokoko-Schnitzwerk entfernt und gotische Zinnen nebst Blattwerk angebracht wurden. Die notdürftige Re-Barockisierung des Prospektes mit Schleierbrettern und Ohren aus bemaltem Sperrholz im Jahre 1949/50 war unbefriedigend. Außerdem brachten die beiden Renovierungen in den Jahren 1949/50 und 1965/66 den Verlust des originalen Spieltisches sowie der ursprünglichen Spiel- und Registertrakturen mit sich. Die Trakturen wurden dabei stilwidrig in Leichtmetallbauweise erneuert. Daneben gab es im klanglichen Bereich noch einige Einbußen, denn die Originalregister Principal 8´, Floet travers 8´, Principal 4´, Mixtur 3f. 1´ und Vox humana 8´ gingen im Laufe der Zeit verloren, sie wurden nicht stilgerecht ersetzt. Trotzdem war die wesentliche Substanz mit Gehäuse, Windladen und über 2/3 des Pfeifenwerkes erhalten geblieben, was eine erneute, denkmalgerechte Restaurierung lohnenswert erscheinen ließ.

     

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    Die Orgelbaufirma Förster & Nicolaus aus Lich (Oberhessen), die noch in der Tradition Heinemanns steht, führte die Orgel in den Jahren 1997/99 weitgehend in ihren Originalzustand von 1766 zurück. Dabei wurden auf einer reversiblen Zusatzlade drei Pedalregister, nämlich Violon Bass 8´, Super Octav 4´ und Trompet 8´ in historischer Bauweise nach Heinemann hinzugefügt, um dem Pedal mehr Selbstständigkeit zu verleihen. Die Kranzgesimse des Oberwerks wurden rekonstruiert und das Schnitzwerk von OBM Stephan Böttner aus Frankenberg (Eder), nach historischen Vorbildern, neu gestaltet. 1999 galt es also ein völlig anderes Instrument neu zu entdecken.

    Gewöhnungsbedürftig war zunächst der reduzierte Tonumfang des Pedals, der dem Organisten Einschränkungen in der Literaturauswahl auferlegt. In Werken, die diesen Umfang vereinzelt überschreiten, kann man kreativ und für den Zuhörer fast unmerklich mit Ersatztönen ausgleichen. Auf viele Werke, zum Beispiel Bachs D-Dur-Präludium oder die F-Dur-Toccata, sowie Literatur der Romantik und Moderne wird man sinnvollerweise verzichten, weil eine Umarbeitung die Originalgestalt der Werke zu stark verändern würde. Dafür eröffnet sich neben dem üblichen Repertoire die Chance, seltener gespielte Komponisten aus der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts neu zu entdecken.

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    Die Orgelwerke des Bach-Lieblingsschülers Johann Ludwig Krebs (1713-1780) und des Bach-Enkelschülers Christian Heinrich Rinck (1770-1846) sowie die Choralbearbeitungen von Johann Peter Kellner (1705-1772) waren für den Verfasser in den kommenden Jahren Entdeckungen, die auf der Heinemann-Orgel wunderbar darzustellen sind. Auch die zugrunde liegende Stimmung Kirnberger II bedeutet zwar eine klangliche Einbuße bei Tonarten mit vielen Vorzeichen, aber einen großen klanglichen Gewinn für Tonarten mit wenigen Vorzeichen durch reinere Dur-Terzen. Alle Tonarten gewinnen eine stärkere Eigencharakteristik, die durch eine gleichstufig temperierte Stimmung verloren gehen würde. Ein echtes Problem für den Gemeindegesang stellt allerdings die Stimmtonhöhe der Orgel mit a¹ = 466 Hz dar, was damit genau einen halben Ton höher als der Kammerton a¹ = 440 Hz ist.

    So erklingt die einzige erhaltene zweimanualige Orgel von Johann Andreas Heinemann als „Zeitzeuge des Barock“ seit der Restaurierung wieder in ihrer ursprünglichen Schönheit, die sich durch einen milden Gesamtklang und farbenreiche Einzelregister auszeichnet.


     

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    Informationen:
    • Tastenumfang Manual C-e''', Pedal C-c'
    • Stimmtonhöhe: a¹ = 466 Hz bei 18°C, Kirnberger II
    • Tremulant: Bocktremulant am Windkanal
    • Schwebung zur Vox humana
    • Winddruck: 57 mm / WS
    Disposition:
    • I Hauptwerk
    • Quintathoena 16′
    • Principal 8′ (1999)
    • Gedact 8′
    • Floet travers 8′ (1999)
    • Viola di Gamba 8′
    • Octava 4′
    • Gemshorn 4′
    • Gedact 4′
    • Super Octava 2′
    • Waldfloed 2′
    • Sesquialtera II 2 2⁄3′
    • Mixtur IV 2′
    • II Oberwerk
    • Hohlfloete 8′
    • Gelind Gedact 8′
    • Principal 4′ (1999)
    • Floet douce 4′
    • Octava 2′
    • Mixtur III 1′ (1999)
    • Vox humana 8′ (1999)
    • Pedal
    • Sub Bass 16′
    • Octav Bass 8′
    • Violon Bass 8′ (1999)
    • Super Octav Bass 4′ (1999)
    • Posaun 16′
    • Trompet 8′ (1999)

    Koppeln: II/I, I/P


     

    Text:

    „Quintett“ 04/2006 Kirchenmusikalische Mitteilungen der EKKW, Dort: „Erfahrungen mit der restaurierten Heinemann Orgel in der Stiftskirche Wetter“ von Kantor i.R. Klaus-Jürgen Höfer.

    Kontakt:

    Evangelische Kirchengemeinde Wetter
    Klosterberg 16 | 35083 Wetter (Hessen)
    www.kirche-wetter.de